Keine Macht für Niemand. 1973 besang es die sozialkritische deutsche Rockband Ton Steine Scherben. Mittlerweile gehört dieser Ansatz zum Geschäftsalltag einiger mutiger Unternehmen. Buzzword: Holokratie. Eine geeignete Alternative zur klassischen Hierarchiestruktur oder nur Träumerei? Das Leipziger Schokoladen-Startup nucao ist sich sicher: die Selbstorganisation durch Mitarbeitende ist fester Bestandteil ihres unternehmerischen Erfolgsrezepts. In unserer Beitragsreihe nehmen wir euch hinter die Kulissen von nucao und geben Einblicke in die Organisationskultur des Leipziger Startups.
Teil 1: Holokratie oder die Hierarchie der Rollen und Kreise
Als Alternative zu konventionellen Hierarchiestrukturen und Autoritäten in Unternehmen leistet die Holokratie ein zentrales Versprechen. Mehr Agilität, Resilienz und Innovationskraft und das Ende von Hierarchien, Machtverhältnissen und Intransparenz. Zu den prominenten Versuchskaninchen zählen unter anderem das Berliner Startup Blinkist und DB Systel, Tochterfirma der Deutsche Bahn AG. Dass sich Blinkist mittlerweile von der Holokratie verabschiedet hat, gehört zur Wahrheit dazu.
Unternehmen mit holokratischem Organisationsansatz wollen weg von der klassischen Top-Down-Hierarchie und hin zur mehr Selbstorganisation durch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. In der Holokratie werden Autoritäten mit Hilfe sich selbst organisierender Teams auf das gesamte Unternehmen verteilt. Vorgesetzte mit delegierender Funktion sind Geschichte. Stattdessen werden Mitarbeitende ermutigt, selbst Verantwortung zu übernehmen.
Kurzfristige und langfristige Tätigkeitsfelder sowie Funktionen werden nicht mehr starr, wie einst in der Stellenausschreibung ausgeschrieben, von einem Mitarbeitenden ausgeführt, sondern in einer sogenannten Rolle zusammengeführt. In Kreisen zusammengefasst bilden mehrere Rollen schließlich eine flexible Organisationseinheit. Starre Positionen und Abteilungen werden somit durch flexible Rollen und Kreise ersetzt.
Früh übt sich: die Anfänge agiler Führung bei nucao
Das Experiment einer Organisationsstruktur mit selbstverwalteten Teams, mehr Autonomie und Verantwortungsverteilung wagte auch der Schokoladenhersteller aus Leipzig, nucao. 2018 waren das noch drei Gründer und eine Handvoll Werkstudierende. Die Initialzündung für die Idee, die traditionelle Management-Hierarchie über Bord zu werfen und mehr Vertrauen in die Selbstverwaltung und -organisation der Mitarbeitenden zu stecken, lieferte eine Werkstudentin. Das Leipziger Startup befand sich zu dieser Zeit noch in der frühen Gründungsphase.
Vier Jahre später erzielt nucao siebenstellige Umsätze und beschäftigt über 70 Mitarbeitende. Mit dem Unternehmenswachstum wuchs auch die Komplexität der Strukturen. Bis heute habe sich die Selbstorganisation als Strukturform im Unternehmen bewährt und als enorm vorteilhaft erwiesen, so Organisationsentwicklerin und Head of People & Culture Marie-Jo Goldmann.
„Holokratie gab uns viele Werte mit, die gelebt werden müssen, damit diese Strukturen überhaupt funktionieren können. Bei uns haben sich die Strukturen und die Werte über die Jahre mit dem Geschäft mitentwickelt und das hat sich als äußerst nützlich erwiesen. Deswegen sind wir ein Unternehmen geworden, das mit Stolz auf seine Organisationskultur blickt, da wir sie relativ früh implementiert haben.“
Mit dem Unternehmenswachstum wuchsen auch die Anforderungen an eine intakte Organisationsstruktur. Größere Teams, mehr Verantwortungsbereiche und mehr Risiko für Fehlkommunikation und Missmanagement. Da die Entwicklung der und des Geschäfts jedoch Hand in Hand gingen, ließen sich aufkommende Wachstumsschmerzen stetig reflektieren und anpassen.
„Reflexion und Anpassungsfähigkeit sind sehr wichtig. Unternehmen sollten nicht einfach ein Modell kopieren und sagen, wir halten uns an ein Handbuch. Sondern sie sollten die Strukturen und Methoden regelmäßig reflektieren und hinterfragen, ob sie noch zum Unternehmen passen. Falls nicht, sollte man sich nicht davor scheuen, Anpassungen vorzunehmen und einen eigenen Weg zu finden. Holokratie ist kein Selbstzweck, doch für unsere Geschichte und Entwicklung spielt sie eine große Rolle.“
Wie Rollen und Kreise definiert werden
Das Holokratie-Modell lebt durch sogenannte Rollen. Marie-Jo selbst übernimmt die Rolle des Head im Kreis People & Culture.
Die Kreise, zu denen die Rollen zusammengefasst werden, organisieren sich selbst. Sie entwickeln neue Rollen, definieren sie um oder schaffen sie ab. Dies erfolgt mit direktem Bezug zu den konkreten Arbeitsaufgaben und Tätigkeitsfeldern
Die Mitarbeitenden bei nucao können verschiedene Rollen übernehmen. Wird eine Rolle zu komplex, bildet sich eine neue. Und kommen mehrere Rollen zusammen, entsteht ein neuer Kreis. Kontinuierlich werden die Rollen angepasst, abhängig davon, wie sich die Herausforderungen und Aufgaben eines Kreises entwickeln.
Wer welche Rolle übernimmt und wie die Rolle aussieht, wird in regelmäßigen Meetings besprochen. Rollen und Kreise besitzen somit einen dynamischen Charakter. Diese Flexibilität verhelfe Unternehmen, so die Befürworter:innen, besser auf externe Störungen reagieren zu können. Und da eine Rolle keine Position sei, müssten Mitarbeitende nicht um ihren Job oder ihre Arbeitsaufgaben bangen, sobald eine Rolle obsolet werde.
Die Bedeutung des Purpose für die Selbstorganisation
In traditionellen Unternehmen mit einem klassischen Top-Down-Management liegt die Delegationsbefugnis meist eindeutig beim Management und den Vorgesetzten einer Abteilung. Und wie ist das in einer Holokratie?
Den Unternehmenszweck als Fixstern definiert, arbeiten Mitarbeitende in unterschiedlichen Rollen auf ein gemeinsames Ziel hin. Damit leisten sie einen eigenen Beitrag und treffen selbst Entscheidungen zur Erfüllung des gemeinschaftlich definierten Purpose. Führungspositionen, Titel oder Hierarchien spielen keine Rolle mehr.
Eine starre und strikte Struktur, wie sie bei traditionellen Unternehmen üblich ist, sucht man bei nucao vergeblich. Stattdessen gestaltet sich das Zusammenspiel über Routinen und gemeinsam definierte Rollen und Regeln.
„Wir arbeiten mit unserem „Holacracy-Overview“. Hier sind alle Rollen und Kreise im ganzen Unternehmen transparent niedergeschrieben. Anhand dessen lassen sich auch meine eigenen Rollen und Verantwortlichkeiten regelmäßig reflektieren und anpassen. Und ich sehe die Rollen meiner Kolleginnen und Kollegen. Diese Übersicht hilft mir bei meinen eigenen Entscheidungen - und um andere mit ins Boot zu holen. Außerdem weiß ich, wen meine Entscheidung betreffen und wie sich meine Aufgaben von anderen Zuständigkeiten abgrenzen. Dieser Überblick hilft schon enorm.“
Doch kann dieses Zusammenspiel gelingen? Was bedeutet es für den Einzelnen, wenn ein Unternehmen in dieser Art Entscheidungen fällt? Und wer übernimmt die Verantwortung für schlecht getroffene Entscheidungen? Über die Entscheidungsprozesse bei nucao und welche Rolle Meetings dabei spielen, erfahrt ihr unserem zweiten Teil der Beitragsreihe "Inside nucao: Wie die Selbstorganisation zum Erfolgsrezept des Leipziger Schokoladenherstellers beiträgt".