Hans-G. Unrau
Auf den Körper zu hören, ist, wenn es um die Gesundheit geht, ein häufiger Ratschlag. Mit SURAG Medical findet dieser Ratschlag auch in der Medizintechnik Anwendung. Die Technologie des Magdeburger Startups wandelt Töne, die im Körper verursacht werden, in hilfreiches Feedback um – selbst dann, wenn diese Töne dem menschlichen Ohr vorenthalten bleiben. Das Gründer-Quartett hat ein System entwickelt, das Ärzt*innen bei Eingriffen unter Zuhilfenahme akustischer Signale sicher durch den Körper ihrer Patient*innen leitet. Moritz Spiller, Co-Gründer von SURAG, erklärt, wie die Innovation Leben retten kann.
Ein Gastbeitrag von Melanie Friedrichs und unserem Partner Univations GmbH.
Die hochspezifische Audioanleitung für Chirurgen
Ist der Blinddarm entzündet, die Leiste gebrochen oder die Gallenblase durch Gallensteine belastet, kommt es in der Regel zu minimalinvasiven Eingriffen. Chirurgie nach Schlüssellochprinzip: Minimale Operationsöffnungen für minimale Verletzungen am Gewebe. Die Sicht der Operateur*in ist bei diesen Eingriffen eingeschränkt, gleichzeitig entstehen dabei kaum wahrnehmbare Töne.
„Jede Reibung erzeugt eine winzige Vibration. Das passiert allein schon dann, wenn ich mit der Hand den Kugelschreiber berühre“, sagt Moritz Spiller, Chief Customer Officer der SURAG Medical GmbH, und tippt gegen einen Stift auf seinem Schreibtisch.
Ein mögliches Szenario im medizinischen Umfeld stellt die Interaktion eines medizinischen Instruments mit Gewebestrukturen im Körper dar. Sobald es das Gewebe berührt, entstehen Vibrationen, die sich durch Schallweiterleitung auch auf den Gegenstand ausbreiten. Diese Vibrationen lassen sich messen. Ein Fakt, den das Startup SURAG Medical dazu nutzt, eine lebensrettende Lösung zu entwickeln. Denn SURAG, das steht für Surgical Audio Guidance, eine Art chirurgische Audioanleitung.
Foto: Univations GmbH
Moritz Spiller (v.l.), Dr. Alfredo Illanes, Nazila Esmaeili und Thomas Sühn bilden das Gründungsquartett von SURAG Medical.
Dass ihre Theorie aufgeht, haben die vier Gründer*innen mithilfe der Veress-Nadel, einem chirurgischen Instrument, was genutzt wird, um Kohlenstoffdioxid in den Bauchraum einzuleiten, bereits erprobt. Die Anwendung der speziellen Kanüle schafft bei minimalinvasiven Eingriffe Platz für das weitere Vorgehen. Während medizinische Eingriffe normalerweise auf exakten Werten, Messungen und Studien beruhen, brauchen Operateur*innen beim Vordringen mit der Nadel bis ins Bauchrauminnere immer noch vor allem eins: Tastgefühl und Erfahrung. Sie müssen die Widerstände erfühlen, die Fettschicht von der Muskelschicht unterscheiden und die individuelle Anatomie des Menschen auf ihrem OP-Tisch erahnen. Für Assistenzärzt*innen ist das in den ersten Berufsjahren eine Herausforderung, für ihre Patient*innen ein Risiko. „Der Operateur kann zu weit stechen und ein Organ treffen – die Milz, den Darm, im schlimmsten Fall die Hauptschlagader“, sagt Moritz und verweist auf eindrückliche Studien. Eigentlich unkomplizierte Eingriffe enden so unter Umständen mit dem Tod.
Wie ein Park-Assistent für minimalinvasive Eingriffe
Selbst bei Verletzungen ohne Todesfolge kann der entstandene Schaden immens sein; vor allem für Patient*innen und ihre Angehörigen, aber auch für die Klinik und das gesamte Gesundheitswesen.
„Wir haben ein Plug-and-Play-System entwickelt, das solche Schäden verhindert“, ist Moritz überzeugt.
Dazu wird ein Sensor, den das Gründerteam entwickelt hat, am Ende der Veress-Nadel befestigt. So kann er die verschiedenen Vibrationen der Nadel wahrnehmen, die beim Vordringen in das Bauchrauminnere entstehen. Die Vibrationen werden verarbeitet und geben den agierenden Chirurg*innen durch ein Leuchten oder ein akustisches Signal ein direktes Feedback, ob der Eingriff korrekt durchgeführt wird. Vergleichbar sei das Prinzip mit einem Park-Assistenten beim Auto, so Informatiker Moritz. Dieser mache ebenfalls durch akustische Signale deutlich, wann das Fahrzeug verlangsamt oder gestoppt werden müsse, um die Kollision mit einem anderen Auto zu verhindern.
Foto: SURAG Medical GmbH
Der derzeitige Prototyp gibt das Feedback noch über den Laptop, in Zukunft erfolgt dies über eine LED am Sensor.
Doch genügen Geräusche allein? Denn so wie es in manchen Autos eine extra Rückfahrkamera gibt, so existieren auch in der Medizintechnik visuelle Übertragungsmöglichkeiten. Eine für Patient*innen noch sicherere Variante? Nicht unbedingt, so der Startup-Gründer: „Mit jedem zusätzlich verwendeten Instrument im Bauchraum steigt das Infektionsrisiko.“ Auch der wirtschaftliche Aspekt könne durch die Klinik nicht außer Acht gelassen werden. In der Regel handle es sich um spezialisierte Kamera-Endoskope, die nur für einen bestimmten Eingriff verwendet werden könnten und noch dazu teure Anschaffungskosten verursachen würden. Die Veress-Nadel sei in vielen Kliniken die kostengünstigere Alternative. Das Tool von SURAG Medical ist als Plug-and-Play-System universell einsetzbar und bleibt während des Eingriffs außerhalb des Körpers.
„Wir verändern das Instrument oder den Workflow nicht. Stattdessen geben wir Chirurgen ein sehr einfach und schnell zu verbindendes Tool an die Hand, das den Eingriff signifikant sicherer macht“, so Moritz.
Internationaler Perspektivwechsel
Der gebürtige Straubinger fand wie seine Team-Kolleg*innen durch das INKA HealthTEC Innovation Lab der Otto-von-Guericke-Universität zu den Forschungsarbeiten hinter SURAG Medical. Trotz der Ausgründung des Startups sind die Gründungsmitglieder weiterhin Teil des INKA-Forschungslabs. So können sie die gut ausgestatteten Medizintechnik-Labore der Institution nutzen. Durch ihre Mitarbeit haben sie sich außerdem ein großes Netzwerk an Forschungs- und Industriepartner*innen aufgebaut.
Auf die Idee zu SURAG Medical kam CEO Dr. Alfredo Illanes durch die Hinweise einiger Mediziner*innen. So lassen sich in der Praxis z.B. durch das Abhören der Halsschlagader Rückschlüsse auf etwaige Ablagerungen ziehen. Bereits 2016 führte Alfredo aus diesem Grund erste Untersuchungen zur Vibrationsübertragung auf medizinische Instrumente durch. Im weiteren Entwicklungsverlauf stießen Nazila Esmaeili und Thomas Sühn dazu. Das Team ist damit zu 50 Prozent international aufgestellt. Alfredo lebt schon seit mehreren Jahren in Deutschland, stammt aber ursprünglich aus Chile. Die Iranerin Nazila kam im Zuge ihres Master-Studiums nach Magdeburg und blieb ebenfalls.
„Wir profitieren alle durch unsere internationalen Erfahrungen“, erzählt Moritz, der wie sein Kollege Thomas selbst eine längere Zeit im Ausland gelebt hat.
Die Interkulturalität ermögliche innerhalb des Startups immer wieder unterschiedliche Perspektiven. Die Kommunikation miteinander erfolge hauptsächlich auf Englisch. In der Startup-Szene sei dies überhaupt kein Problem. Im Gründungsprozess bleibe es dagegen eine Herausforderung. „Gerade administrative Angelegenheiten, bei der Bank, beim Notar oder beim Steuerberater – da wird es für Nicht-Muttersprachler schwierig.“
Aufgehalten hat es das SURAG-Medical-Team in seinem Vorhaben allerdings nicht – im Gegenteil. 2019 stellte die Gruppe einen Antrag für den EXIST-Forschungstransfer, seit April 2020 ist das Vorhaben durch das bundesweite Förderprogramm finanziert. Auch die Invest-Förderfähigkeit, Voraussetzung für ein Unterstützungsprogramm für Privatinvestor*innen, wurde ihnen bereits attestiert. Im Juni 2021 gründete das Team die GmbH. Sein Büro beim INKA-Labor auf dem Medizin-Campus in Magdeburg erleichtert die Zusammenarbeit mit den Ärzt*innen des Klinikums der Universität Magdeburg. Letztere ist in der Gründungsgeschichte des noch jungen Unternehmens ein wichtiger Dreh- und Angelpunkt.
„Ohne die Uni hätten wir uns wohl nie getroffen und hier gegründet“, sagt Moritz.
Auch die Fördermöglichkeiten sprechen im Vergleich zu anderen Bundesländern für das Gründen in Sachsen-Anhalt. Was die Vielfalt des Startup-Ökosystems und die Attraktivität durch große Venture-Capital-Investor*innen betrifft, sei in der Region allerdings noch Luft nach oben.
Bundesweit und über die Grenze: Netzwerk und Know-how
Um ihr Netzwerk auszubauen, von Expert*innen zu lernen und bekannter zu werden, sind die SURAG-Gründungsmitglieder auf den unterschiedlichsten Pitch-Events, Workshops und Acceleratoren anzutreffen. Dazu gehörte zuletzt der Weinberg Campus Accelerator, der Startup Fight Club der Startup Safari Sachsen-Anhalt und der Investforum Pitch-Day. Und auch außerhalb des Bundeslandes nehmen die Gründer*innen Angebote für Startups an. „Für uns spannend war z.B. der 4C Accelerator Tübingen. Ein guter Mix aus den in der Medizintechnik essenziellen Themen Zertifizierung, klinische Studien, Kommerzialisierung und gewerbliche Schutzrechte“, sagt der Wahl-Magdeburger. Das Schweizer Event Tech Tour Growth ermöglichte SURAG, mit einer Reihe von etablierten Medizintechnik-Unternehmen ins Gespräch zu kommen.
„Der Besuch vieler Veranstaltungen lohnt sich von Anfang an. Du erhältst die Aufmerksamkeit von Branchen-Playern, und selbst wenn es zu früh ist, um über eine Finanzierung oder Kooperation zu sprechen, ergibt sich so zumindest schon ein Kontakt“, so der CCO.
An Bekanntheit gewann die SURAG GmbH auch durch namhafte Auszeichnungen. Erfolgreich war die Teilnahme des Startups beim IQ Innovationspreis, Science4Life Venture Cup oder Hugo-Junkers-Preis. „Daraufhin haben uns sogar schon Investoren aus Barcelona kontaktiert“, freut sich Moritz.
Foto: Univations GmbH
CCO Moritz Spiller nutzt mit seinem Unternehmen bundesweit Unterstützungsangebote für Startups, so auch den Investforum Pitch-Day 2021.
Der Abschluss einer ersten Finanzierungsrunde steht jedoch noch aus. 1,4 Millionen Euro benötigt das Team, um das Sensor-System weiterzuentwickeln. Als Plattformtechnologie hat die Entwicklung großes Potenzial, auch bei anderen Eingriffen Anwendung zu finden. In den kommenden zwei Jahren wollen die Entwickler*innen ein Qualitätsmanagementsystem etablieren und für das Tool eine Zulassung erhalten. „Eine unglaublich arbeitsintensive Zeit liegt hinter uns und steht uns auf jeden Fall auch noch bevor“, sagt Moritz. Der Ingenieur freue sich dennoch – oder auch gerade deshalb – auf das, was kommt. In einem normalen Unternehmen zu arbeiten könne er sich fast gar nicht mehr vorstellen. Stattdessen geben er und seine Co-Gründer*innen 100 Prozent, um das SURAG-Medical-System in die Operationssäle zu bringen und minimalinvasive Eingriffe noch sicherer zu gestalten.